Standards der Betroffenenbeteiligung für institutionelle Aufarbeitung vorgestellt
PRESSEINFORMATION
„Standards der Betroffenenbeteiligung für institutionelle Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“ in Berlin vorgestellt
„Dass wir so weit gekommen sind, ist auch dem Lernprozess von Korntal zu verdanken“
(Korntal, 16. Juli 2025)
Für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen gibt es jetzt ein breit abgestimmtes Regelwerk für verbindliche Beteiligungsprozesse. Die „Standards der Betroffenenbeteiligung im Kontext institutioneller Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“ wurden Ende Juni 2025 der Öffentlichkeit vorgestellt. Mehr als 150 Personen – Betroffene, Vertreter von Institutionen und unabhängige Experten – haben sie zwei Jahre lang erarbeitet. Nach Ansicht von Maria Loheide, Sozialvorständin a. D. der Diakonie Deutschland, hat auch die Aufarbeitung von Korntal maßgeblich zur Entwicklung der neuen Aufarbeitungsrichtlinien beigetragen.
Maria Loheide: „Korntal hat Maßstäbe gesetzt“
Aus Sicht von Diakonie-Sozialvorständin a. D. Maria Loheide „ist es auch dem langen und schmerzhaften Lernprozess in Korntal zu verdanken, dass wir heute diesen wichtigen Meilenstein erreicht haben. Vor allem die von Missbrauch Betroffenen haben mit Mut und Ausdauer diesen Weg möglich gemacht“, sagte die Sozialpolitikerin anlässlich ihres Besuchs des Diakonie-Jahresfests Anfang Juli 2025 in Korntal. Mit Blick auf die Institution der damaligen Kinderheime in Korntal und Wilhelmsdorf, in denen Kinder und Jugendliche in den 1950er bis 1980er Jahren verschiedene Formen von Gewalt erlebt hatten, würdigte Loheide auch die Haltung der heute Verantwortlichen von Diakonie und Evangelischer Brüdergemeinde: „Dass in Korntal Kirche und Diakonie den Weg der Aufarbeitung gemeinsam, offen und öffentlich gegangen sind und weiter gehen, verdient meinen größten Respekt und tiefen Dank.“
„Standards“ leiten Perspektivwechsel in der institutionellen Aufarbeitung ein
Die „Standards der Betroffenenbeteiligung im Kontext institutioneller Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“ wurden u.a. von Betroffenen sexualisierter Gewalt, Vertreterinnen und Vertretern von Institutionen sowie unabhängigen Aufarbeitungsexpertinnen und -experten erarbeitet. Die Initiative dafür ging von der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, dem Betroffenenrat der UBSKM sowie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aus. Die Standards beschreiben, wie ein Aufarbeitungsprozess von Anfang an unter Beteiligung Betroffener gemeinsam und gleichberechtigt vorbereitet, umgesetzt und abgeschlossen werden kann. Damit wird ein tiefgreifender Perspektivwechsel eingeleitet, bei dem nicht mehr primär die Institution den Rahmen der Aufarbeitung definiert.
Infos: https://beauftragte-missbrauch.de/presse/artikel/1039 und https://www.der-dialogprozess.de/
Maria Loheide: „Korntal ist kein Einzelfall“
Nach Ansicht von Maria Loheide „ist Korntal kein Einzelfall: An vielen Orten innerhalb von Kirche und Diakonie hat es Gewalt gegeben. Sexualisierte Gewalt und Missbrauch, gerade in Einrichtungen der Diakonie, er-schüttern, beschämen – und verpflichten. Heute stehen Schutz, Prävention, Aufarbeitung und Anerkennung an oberster Stelle. Verbindliche Gewaltschutzrichtlinien, unabhängige Aufarbeitungs- und Anerkennungs-kommissionen sowie kontinuierliche Schulungen wurden auf den Weg gebracht. Die „Standards zur Betroffenenbeteiligung“ sind dafür ein wichtiger Meilenstein: Sie geben Orientierung und sichern Qualität. Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, müssen von Anfang an in alle Schritte der Aufarbeitung einbezogen werden.“
Grußwort im Festgottesdienst: „Korntal hat uns weitergebracht“
„Die Aufklärung in Korntal hat uns in der Entwicklung von Standards für die Aufarbeitung deutlich vorangebracht“, so Loheide in ihrem Grußwort beim Gottesdienst zum Jahresfest. „Dass wir heute, zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Korntaler Aufklärungsberichts, so weit sind, ist dem Engagement vieler Betroffener zu verdanken, allen voran Detlev Zander, der trotz erheblichem Widerstand dafür gesorgt hat, dass hingeschaut wird, sowie dem ehemaligen weltlichen Vorsteher der Gemeinde Klaus Andersen, der sich in Korntal und bundesweit mit Klarheit und Konsequenz für die Aufarbeitung eingesetzt hat. Auch die heutige Leitung der Diakonie unter Geschäftsführer Andreas Wieland und der Evangelischen Brüdergemeinde unter dem Geistlichen Vorsteher Pfarrer Johannes Luithle lassen dieses Engagement deutlich und glaubhaft erkennen. Es wurde viel getan – und es bleibt viel zu tun. Aber heute, an diesem Festtag, dürfen wir auch sagen: Es bewegt sich etwas – im Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Hoffnung auf Heilung.“
Austausch mit Betroffenen beim Diakonie-Jahresfest
Am Nachmittag beantwortete Loheide im Austausch mit Betroffenen sexualisierter Gewalt deren Fragen. Dabei betonte die Sozialpolitikerin der Diakonie: „Wenn Beteiligung wirklich gelebt wird, kann ein tiefgreifender Paradigmenwechsel stattfinden: im Umgang mit Betroffenen ebenso wie im Erkennen und Verändern institutioneller Strukturen, die solche Taten ermöglicht oder begünstigt haben. Dies gelingt, wenn „Standards“ nicht als bloßer Maßnahmenkatalog verstanden werden. Entscheidend bleibt die respektvolle, zugewandte und aufrichtige Haltung der Institution und ihrer Vertreter gegenüber den Betroffenen. Denn Aufarbeitung und Anerkennung enden nicht – weil auch für die Betroffenen die Erfahrung sexualisierter Gewalt niemals endet.“
Andreas Wieland: „Wir stehen zu unserer Vergangenheit und zu unserem Versagen“
Der seit Herbst 2023 amtierende Diakonie-Geschäftsführer Andreas Wieland nahm an der öffentlichen Präsentation der „Standards“ zum Abschluss des Dialogprozesses in Berlin Ende Juni 2025 teil, gemeinsam mit Klaus Andersen. „Als diakonische Einrichtung, in deren Einrichtungen in den 1950er bis 1980er Jahren massiver Missbrauch verübt wurde, begrüßen wir die jetzt vorgelegten „Standards“ ausdrücklich. Als heutige Leitung der Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal und Wilhelmsdorf stehen wir zu den damals begangenen Taten und gehen offen und transparent damit um. Gleichzeitig verurteilen wir diese aufs Schärfste und distanzieren uns von jeglicher Bagatellisierung oder Leugnung. Unser öffentlich formuliertes Schuldbekenntnis spiegelt unsere Haltung dazu wider“. (https://www.diakonie-korntal.de/schuldbekenntnis.html)
Wieland: „Der Aufarbeitungsprozess hat uns als Institution nachhaltig verändert“
Wieland weiter: „Auf dem Weg der Aufarbeitung, den wir seit 2014 eingeschlagen haben, haben wir in vielem Neuland betreten. Im Umgang mit Betroffenen und ihrer Beteiligung, im Kontakt mit Medien, bei der Information der Öffentlichkeit sowie in der Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch, Schutz und Prävention innerhalb der Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde sind wir seither, besonders nach Veröffentlichung des Aufklärungsberichts 2018, deutliche Schritte nach vorne gegangen. Auch wenn wir mit dem heutigen Wissen im Rückblick auf unseren eigenen Prozess manches hätten anders machen können, sind wir, als permanent Lernende, dankbar darüber, was die „Korntaler Aufarbeitung“ in unserer eigenen Institution, aber auch darüber hinaus, ausgelöst und bewirkt hat.“
Wieland: „Wir wünschen uns, dass ein Ruck durch die Gesellschaft geht“
„Der Prozess der Aufarbeitung ist nie zu Ende. Dabei ist es uns ein großes Anliegen, mit Betroffenen in respektvoller Kommunikation und einem wertschätzenden Umgang zu kommunizieren und gemeinsam Lösungen zu finden. Wir lernen mit ihnen und von ihnen, wie wir Menschen heute vor Gewalt und Missbrauch schützen können. Auch dafür sind wir dankbar. Als Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal wünschen wir uns, dass ein Ruck durch die Gesellschaft geht, der mit einer erhöhten Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und dem schonungslosen Aufdecken von Fällen derartiger Abscheulichkeiten und Verbrechen einhergeht. Die jetzt vorgelegten „Standards der Betroffenenbeteiligung“ tragen dazu wesentlich bei.“
Detlev Zander: „Aufarbeitung erfordert respektvolle Kommunikation und wertschätzenden Umgang“
Für Detlev Zander, der als ehemaliges Heimkind in Korntal jahrelang Missbrauch erlebt und die Korntaler Aufarbeitung eingefordert hatte und sich heute als Sprecher des „Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) und der Diakonie Deutschland“ (BeFo) bundesweit für eine konsequente Aufarbeitung von Missbrauch einsetzt, gelingt ein Aufarbeitungsprozess nur, wenn Betroffene von Anfang mit ihrer Erfahrung und Expertise beteiligt und durch respektvolle Kommunikation und einen wertschätzenden Umgang ernst genommen werden. „Als Sprecher der Betroffenenvertretung im BeFo begrüße ich ausdrücklich die Entwicklung gemeinsamer Standards für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt,“ sagte Detlev Zander. „Die aktive Mitwirkung des Beteiligungsforums bei der Erarbeitung der jetzt vorgestellten „Standards“ und die Geschichte der Korntaler Aufarbeitung waren dafür eine unerlässliche Voraussetzung.“https://www.ekd.de/beteiligungsforum-sexualisierte-gewalt-73955.htm
Zander: „Korntal hat mutig Neuland betreten“
Detlev Zander weiter: „Als die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Korntal vor rund zehn Jahren begann, gab es keine verbindliche Richtlinien - weder für die Aufarbeitung der Institution noch für die Beteiligung von Betroffenen. Die Verantwortlichen der Evangelischen Brüdergemeinde und ihrer Diakonie haben sich dennoch auf den schwierigen Weg der Aufklärung begeben. Vieles war Neuland und es gab kein erprobtes Verfahren, wie Betroffene wirksam beteiligt werden können. Dass Korntal trotzdem den Weg einer konsequenten Aufarbeitung beschritten hat und auch heute die Mitarbeitenden der Diakonie und die Mitglieder der Evangelischen Brüdergemeinde dabei einbezieht, respektiere ich ausdrücklich. Das Ergebnis macht Mut, dass Institutionen in künftigen Aufarbeitungsprozessen aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen. Die Aufarbeitungsgeschichte von Korntal hat dafür - bei aller Kritik, die wir am Aufklärungsbericht haben - entscheidend dazu beigetragen.“
Klaus Andersen: „Institutionen müssen befähigt werden, eine Aufarbeitung durchzuführen“
Klaus Andersen, der als ehemaliger Weltlicher Vorsteher der Evang. Brüdergemeinde und Vorsitzender des Diakonie-Aufsichtsrats (bis 2021) den Aufarbeitungsprozess von Korntal seit der ersten Stunde maßgeblich durchgeführt und begleitet hat, engagiert sich heute ehrenamtlich als Vorsitzender des „Komitees für Aufarbeitung und Prävention“ weiterhin in der Diakonie und Evangelischen Brüdergemeinde Korntal und ist darüber hinaus in Organisationen beratend tätig. Als Vertreter einer Institution, die bereits einen Aufarbeitungsprozess durchgeführt hat, beteiligte er sich aktiv in den Arbeitsgruppen und der redaktionellen Dokumentation der Ergebnisse des Dialogprozesses und nahm ebenfalls an der Abschlussveranstaltung und der Präsentation der „Standards“ Ende Juni 2025 in Berlin teil.
Andersen: „Gelungene Aufarbeitung muss sich an ihrer konsequenten Umsetzung messen lassen“
Im Rückblick fasst Andersen zusammen: „Unsere Lernkurve als Institution war enorm. In unserem Aufarbeitungsprozess haben wir zahlreiche Rückschläge und Phasen des Scheiterns erlebt, aber auch Ermutigung und Zustimmung – auch von betroffenen ehemaligen Heimkindern. Hätte es 2014, als wir mit der Aufarbeitung begonnen haben, solche Standards gegeben, hätten wir manche Fehler nicht gemacht. Deshalb bin ich dankbar, dass es jetzt eine verbindliche Grundlage gibt, die Institutionen einen Rahmen vorgibt, in dem Sie betroffenenorientiert einen Aufarbeitungsprozess durchführen können.“
Mit Blick auf den Verlauf des Dialogprozesses resümiert Andersen: „Wertvoll war, dass erstmals Vertreterinnen und Vertreter aller drei Bereiche - Verantwortliche von UBSKM, Betroffenenrat und Aufarbeitungskommission – beteiligt wurden. Die zu Beginn formulierten "Gelingensbedingungen" mit klaren Regeln für einen wertschätzenden und respektvollen Umgang haben positiv zum Verlauf und Ergebnis beigetragen. Wichtig für eine gelungene Betroffenenbeteiligung waren eine professionelle und partizipativ orientierte Prozessbegleitung und die Anerkennung der Expertise der Betroffenen. Bestehende Machtungleichgewichte wurden sichtbar gemacht und haben so im Bewusstsein dieser Machtstrukturen einen respektvollen Umgang miteinander ermöglicht. Die höchste Wertschätzung, die eine Institution bei künftigen Aufarbeitungsprozessen gegenüber Beteiligten, zeigen kann, ist die vorbehaltlose und konsequente Umsetzung der „Standards“.
Kontakt: Gerd Sander (Pressesprecher)
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